Pressespiegel & Aktuelles
Pressespiegel & Aktuelles - Archiv von Wolfgang Schuster
Beachten Sie bitte, dass dieser Artikel vor 6023 Tagen veröffentlicht wurde.
Die Hessenwahl und ihre Folgen
Wahlrecht und Wählerbetrug
Ein Bundespräsident a. D. schlägt nach den Hessenwahlen vor, Deutschland (wieder) zu stabilisieren, indem man den "großen Volksparteien" nachhilft, den kleinen das Leben schwermacht.
Roman Herzog wünscht gewiss keine algerischen und palästinensischen
Verhältnisse für die Bundesrepublik Deutschland. In jenen fernen
Ländern gilt es: Freie Wahlen, ja, aber wehe, wenn die Wähler anders
wählen, als es den Mächtigeren passt. Dann müssen die Wahlen
abgebrochen (Algerien), die Wähler der falschen Mehrheit (Palästina)
bombardiert und ausgehungert werden.
In Deutschland soll es laut
Herzog, falls das Volk sich durch die machtgewohnten Volksparteien
nicht mehr vertreten fühlt, einfacher und demokratischer zugehen: Das
Wahlrecht wird geändert. Der Ex-Präsident der Bundesrepublik, davor
ihres höchsten Verfassungsgerichts, schlägt vor, dass man die
Verfassung der Republik so lange ummodelt, bis ihm (und natürlich "uns"
als Stabilitätsfreunden) das Wahlergebnis recht ist. Ob das noch Recht
ist?
Roman Herzog begründet seine Sorgen nicht damit, dass die
paradiesischen Verhältnisse vorbei sind, in denen die beiden großen
Parteien CDU und SPD
sich darauf verlassen konnten, dass die dritte, kleine FDP in
unregelmäßigen Abständen umschwenkt; auch nicht damit, dass eine zweite
kleine Partei, die lang verketzerte grüne, sich erst allzu zögernd mit
der Umfaller-Rolle anfreundet. Der Anlass für Herzogs Sorgen ist: der
Sturz in Instabilität, der unserer Republik droht, wenn sich die Wähler
(im Gegensatz zu den Politikern) von vier auf fünf Parteien umstellen
sollten. Kurz: Herzogs Vorschlag handelt nicht von der Regierbarkeit
Deutschlands, sondern vom Schrecken der Hessenwahl für beide
"Volksparteien". Sein Beitrag erfordert deshalb keinen staatsrechtlich
juristischen, sondern einen staatsbürgerlich politischen Einspruch.
Zwischen zwei Wortbrüchen
Die
Berichterstattung deutscher Zeitungen über die Hessenwahl krankt daran,
dass sie empört oder halbwegs sachlich vom "Wortbruch" reden - ohne
daran zu erinnern, dass Andrea Ypsilanti vor den Wahlen nicht eine
Versprechung, sondern zwei Versprechungen gegeben hat: Erstens kündigte
sie an, Roland Koch als Ministerpräsidenten abzulösen, zweitens sich
nicht von den Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Leider
haben nicht Roland Koch oder Kurt Beck, sondern die hessischen Wähler
verhindert, dass sie beide Versprechungen gleichzeitig einlöst. Was sie
nun auch tut oder unterlässt: Eine ihrer beiden Versprechungen ist
Schnee von gestern. Das sei "Wortbruch" und "Wählerbetrug" - so
schreiben nicht nur "Bild" und "BZ", sondern auch klügere Zeitungen in
ihren Schlagzeilen.
Gestatte man mir einen logischen Exkurs. Ypsilanti kann nicht die Wähler der CDU
plus der FDP um ihre Stimmen betrogen haben, da diese mit 46,2 Prozent
Roland Koch wählen wollten und auch wählten. Sie kann nur die 49,3
Prozent der Wähler für SPD,
Grüne und Linke betrogen haben, die anders gewählt hätten, hätten sie
gewusst, dass Ypsilanti bei der kommenden geheimen Wahl im Landtag
notfalls bereit ist, sich auch mit sechs unerlaubten Stimmen zur
Ministerpräsidentin wählen zu lassen. (Dass es auch "Linke"-Wähler
gegeben haben kann, die sich darauf verließen, mit ihren Stimmen keiner
Landesregierung der Ypsilanti-SPD in den Sattel zu helfen, wird nirgends erwogen, ist aber sehr wahrscheinlich.)
Die
politisch (und logisch) richtige Frage heißt deshalb: Welcher
"Wortbruch" ist dieser knappen "linken" Mehrheit (49 gegen 46 Prozent)
weniger akzeptabel: Entweder Roland Koch mit einer kommissarischen (man
sagt lieber: geschäftsführenden) Minderheitsregierung, solange er Lust
hat, weiterregieren zu lassen, oder aber eine Minderheitsregierung mit
Andrea Ypsilanti zu riskieren? Merkel, Pofalla und Koch selbst wissen,
dass die Koch-Regierung unfähig wäre zu regieren, das heißt auch nur
den geringsten Beschluss im Landtag durchzubringen. Ihr einziger Sinn
wäre, dass Koch abwarten kann, bis türkische Jungens wieder einmal
einen alten Rentner zusammenschlagen - um dann (nach einem
Misstrauensantrag, den er ja jederzeit verlieren/gewinnen kann) in
Neuwahlen zu triumphieren.
Heißt Gewissen: Wortbruch?
Nötig wäre es also, den SPD-,
Grünen- und Linken-Wählern die triftige Frage zu stellen: Wollt ihr
Koch kommissarisch oder Ypsilanti minoritär regieren lassen? Dagmar
Metzger will das nun, nach neuesten Meldungen, ihr SPD-Wahlvolk
fragen. Nicht auch sich selbst? Hat sie, als sie gegen Kochs Ministerin
und Stellvertreterin Karin Wolff um das Direktmandat in Darmstadt-Stadt
II kämpfte, niemals ihren Wählern versprochen, Kochs Regierung
abzulösen? Sind ihr seit Donnerstag so universal hochgelobtes
"Gewissen" und "Ehrgefühl" - selektiver Wortbruch? Diese Frage gilt
nicht nur Dagmar Metzger, sondern der gesamten hessischen SPD (sogar Jürgen Walter).
Nur aus den Antworten der SPD-,
Grünen- und Linken-Wähler bekäme man endlich Aufschluss darüber,
welcher "Wahlbetrug" den Betrogenen lieber bzw. weniger unlieb ist.
Gerade diese Frage wird aber verhindert: erstens durch eine
beispiellose Hetze der Rechts-Boulevardblätter; zweitens durch eine
Verdummungskampagne der Rechts-Mitte-Politiker, die genau wissen (und
es eben deshalb nicht sagen), dass es nicht um Becks oder Ypsilantis
Wortbruch geht, sondern um Kochs letzte Chance, die verlorenen Wahlen
(die CDU büßte 12 Prozent ihrer Stimmen ein) doch noch zu gewinnen.
Hier
muss man den zweiten Mangel der Berichterstattung auch der besseren
Zeitungen, Rundfunk- und TV-Sender beklagen. Wer heute nur über die
Umfrage-Verluste für SPD,
Beck, Ypsilanti berichtet, statt zugleich über die Tsunami-Welle von
demagogischer Raserei, mit der die meistgelesenen Zeitungen des Landes
seit den Hessen- und Hamburg-Wahlen täglich über Volk und Politik
herfallen - der schildert die Lage unvollständig, also falsch. Die
meisten Leser dieser Zeilen sind bei ihrer täglichen Arbeit, wenn ich
als Rentner noch im Berliner Frühstückscafé sitze, in dem neben dem
"Tagesspiegel" auch die "Bild-Zeitung" und die "BZ" aufliegen, das
grelle Titelblatt zuoberst. Ein solche Seuche des Hasses wie in den
letzten Wochen gegen Beck und "Frau Lügilanti" wurde hierzulande seit
den Dutschke-Jahren nicht mehr entfesselt.
Ist die SPD unschuldig daran, wenn ihre Umfrage-Ergebnisse sinken, wenn Kurt Beck für Rudi Dutschke einspringen muss? Die SPD
hat unter der hervorragend orchestrierten Belagerung durch ihre
Wahlgegner ein Versprechen abgegeben, das man in einer
parlamentarischen Demokratie schwer halten kann. Ypsilanti kann bei
einer geheimen Wahl keineswegs verhindern, dass Abgeordnete der SPD
sie nicht wählen - weniger noch, dass Abgeordnete der Linken sie
wählen. Ihr einziges sicheres Mittel wäre, sich der Wahl nicht zu
stellen. Das hieße, dass der SPD
Roland Koch lieber ist als Gregor Gysi. Genau dies ist der Argwohn, aus
dem viele Wähler die Linken wählen wollen: laut Umfrage von Forsa (27.
2.) 12 Prozent, von Emnid (4. 3.) jäh hochgekletterte 14 Prozent
bundesweit.
Die SPD
hasst in Wahrheit weder Gregor Gysi noch Roland Koch - sie hasst Oskar
Lafontaine. Sie wirft ihm vor, ein Verräter zu sein. Wenn man kein
ewigtreues Mitglied der SPD
ist, fällt es einem schwer, diese Gefühle zu teilen. Man mag Lafontaine
im Fernsehen sympathisch oder unsympathisch finden - was er der SPD
antat, wirkt eher wie Integrität als wie Verrat. Er ist (täuscht mich
die Erinnerung nicht) erst der dritte Bundesminister in unserer
Republik, also in sechzig Jahren, der freiwillig zurücktrat, weil die
Beschlüsse der Regierung seinen Überzeugungen widersprachen. Der erste
hieß Gustav Heinemann. Er hielt 1950 Adenauers Wiederbewaffnungskurs
für schädlich und kehrte deshalb als Innenminister dem ersten
Adenauer-Kabinett den Rücken.
Das hinderliche SPD-Trauma
CDU-Anhänger
störten von da an Heinemanns Reden mit Pfeifkonzerten. Er hielt das als
gläubiger Protestant ("Hier stehe ich und kann nicht anders") durch.
1969 - 74 war er der nach Theodor Heuß wohl ehrwürdigste Präsident der
Bundesrepublik. Der zweite Abgedankte hieß Ewald Bucher, Adenauers,
Erhards Justizminister 1962 - 65. Er trat zurück, weil er die
Verlängerung der Verjährungsfristen für NS-Morde für rechtswidrig
hielt. Dass er Mitglied der NSDAP schon vor 1933 gewesen war und das
Goldene Abzeichen der Hitler-Jugend getragen hatte, sagt zwar viel
gegen Adenauer und die damalige FDP, die ihn zum Justizminister
machten. Es sagt nichts gegen die Konsequenz, mit der Bucher seine
Rechtsansicht vertrat. Er wurde mit dem Wohnungsbauministerium
entschädigt.
Kein Mensch könnte in diese Reihe passen, auch
Lafontaine nicht. Doch seine Haltung scheint mir der Heinemanns näher.
Er erklärte sich 1998 gegen die sozialen Abstriche in Schröders
Wirtschaftplanung. Er trat 1999 nicht nur als Finanzminister, sondern
auch als Vorsitzender der damals größten Bundespartei zurück. Das
Ressentiment seiner einstigen Parteifreunde ist eher gewachsen, seit
der Name Hartz etwas von seinem Glanz verlor und die SPD selbst die "Agenda" für revisionsbedürftig hält. Eine normale, von Verstand statt Emotion gelenkte Politik wird die SPD der PDS/Linken gegenüber nicht gewinnen, bevor sie das Trauma Lafontaine verarbeitet.
Für
Roman Herzogs Ängste bringe ich wenig Einfühlung auf - und für einige
Daten seines Aufsatzes noch weniger Verständnis. "Bis etwa 1980 genoss
die Bundesrepublik eine erstaunliche Stabilität." Sieht er in 1986
immer noch das Jahr des Sündenfalls: als Holger Börner seine hessische
Minderheitsregierung nach anderthalb Jahren Widerstand doch noch mit
den damals Unberührbaren, den Grünen, ergänzte? Hat Börner damals (mit
seinem neuen Minister Joschka Fischer) die Bundesrepublik gefährdet?
Erscheint uns Helmut Kohls sechzehnjährige Kanzlerschaft 1982 - 98 im
Rückblick als instabil?
Schade, dass es Herzog und anderen im
Augenblick, wie gesagt, weniger um den nicht gefährdeten Bestand
unserer Republik geht als um die verlorene Hessenwahl. Er und andere
(inklusive der SPD)
werden den Schock vom 27. Januar bald überstanden haben. Dann wird man
der Stimme Herzogs erneut mit gelegentlichem Gewinn zuhören. Die beiden
"Volksparteien" aber, an denen ihm so viel liegt, müssen selber dafür
sorgen, dass sie das auch in den Augen des Volkes wieder werden. Weder
die Schein-Einheitsfront der CDU noch die tägliche Streitshow der SPD tragen dazu in diesen Tagen bei.