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Pressespiegel & Aktuelles - Archiv von Wolfgang Schuster

Beachten Sie bitte, dass dieser Artikel vor 3879 Tagen veröffentlicht wurde.

Was die Welt mit Emad macht

Ein syrischer Flüchtling berichtet von seinem Weg in den Lahn-Dill-Kreis

Dillenburg/Haiger/Herborn/Wetzlar. Er soll andere Menschen, Demonstranten in seinem Heimatland, töten - er nennt es "killen". So verlange es seine Regierung. Oder er werde selbst getötet, von Scharfschützen der eigenen Armee. Er steht vor der Wahl und trifft eine Entscheidung: Er flieht. Seit einem Jahr ist Emad Aldeen, so sein Vorname, in Deutschland. Der 27-Jährige stammt aus Syrien und lebt nun als Flüchtling in einem Wohnheim im Lahn-Dill-Kreis.

Emad Aldeen ist ein Mensch, hat einen Lebensabschnitt hinter sich, in dem er Medizin studierte, er ist gelernter Arzt, und er hat ein Lebensziel vor sich, er will als Arzt arbeiten, in diesem Sommer war er einen Monat lang Praktikant im Weilburger Krankenhaus.

Emad Aldeen ist auch ein Fall für die Politik. Für die große Politik in Berlin, die darüber bestimmt, wie viele Flüchtlinge aus welchen Ländern nach Deutschland dürfen und wer Asyl bekommt und bleiben darf; die ab heute 5000 Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland holt. Und für die kleine Politik im Lahn-Dill-Kreis, die darüber berät, wie viele Flüchtlinge dem Kreis in den nächsten Wochen zugeteilt und wo sie untergebracht werden.

"Ich will nichts mit Waffen zu tun haben, ich bin Arzt von Beruf"

Der 27-Jährige erzählt über sein Leben in Syrien: Seine Familie sei wohlhabend, habe Land, auf denen Baumwolle, das "weiße Gold", angebaut werde und sie vermiete viele Läden. "Unser Lebensstandard war sehr gut", sagt er. Aus wirtschaftlicher Not flüchtete er nicht.

Emad Aldeen studierte von 2004 bis 2011 Medizin in der Ukraine, sein zwei Jahre älterer Bruder dort etwa in der gleichen Zeit Zahnmedizin. Ein Studium in Syrien sei nur schwer möglich, es gebe kaum Universitäten, die Regierung fördere das Militär, nicht die Bildung, sagt er. Selbst Syriens Staatspräsident Baschar al-Assad absolvierte sein Medizinstudium im Ausland, in London.

Als Emad Aldeen am 15. Juli 2011 nach Syrien zurückkehrt, ist der Bürgerkrieg erst wenige Monate alt. Auslöser waren Proteste im Zuge des "Arabischen Frühlings". Auch er demonstriert, geht in seiner Heimatstadt Ar-Raqqa, mit Tausenden anderer Menschen auf die Straße, sie fordern Demokratie und protestieren gegen die Massaker. Und auch in der 220 000-Einwohner-Stadt seien Demonstranten erschossen worden, etwa 40 an einem einzigen Tag im März vorigen Jahres, berichtet er. Aus einem Konflikt zwischen Regierung und Demonstranten sei auch ein Konflikt zwischen Rebellen und radikalen islamistischen Gruppen geworden. Inzwischen werde die Stadt zwei-, dreimal in der Woche bombardiert.

Für Emad Aldeen ist klar: "Ich will nichts mit Waffen zu tun haben. Ich bin Arzt von Beruf. Ich kann kein Leben zerstören, das passt nicht zu unseren Prinzipien." Aber er soll zur Armee, seinen zweijährigen Militärdienst ableisten. "Wir wissen, wenn man in dieser Zeit in der Armee ist und muss zu einer Demonstration, dann musst Du Menschen killen. Und wenn Du es nicht machst, steht ein Sniper aus der Regierungsarmee hinter Dir, der Dich tötet." Emad Aldeen will den Militärdienst vermeiden, will sofort als Hausarzt arbeiten, schickt Briefe an die Regierungsbehörden in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ohne Erfolg.

Schließlich sieht er nur einen Ausweg. Und auch seine Eltern sagen, ,Du musst in ein anderes Land gehen; dorthin, wo Du sicher bist'. Im Juni 2012 reist Emad Aldeen in die Türkei. Nahe der syrischen Grenze lebt ein Bekannter seines Vaters. Dort kommt er für einen Monat unter. Aber er kommt nicht voran. "Ich konnte dort nicht als Arzt arbeiten, und ich wusste nicht, wie lange ich dort als Flüchtling bleiben darf." Also versucht er, mit einer List zu einem Bekannten nach Wien zu reisen. Direktflüge aus der Türkei in ein EU-Land sind für einen Flüchtling nicht möglich, und die Kontrollen an den türkischen Flughäfen streng. So fliegt er für einen Tag nach Dubai, bucht dort ein Ticket für einen Flug in den Kosovo - "dort können Syrer für drei Monate ohne Visum leben". Und er bucht diesen Flug bei einer österreichischen Airline - Transit, also Zwischenstopp in Wien inklusive.

17 Unterkünfte mit rund 380 Flüchtlingen im gesamten Lahn-Dill-Kreis

Die Sache hat bloß einen Haken: Der Flug wird kurzfristig gestrichen. Allerdings ist man in Dubai so freundlich und besorgt ihm einen Ersatzflug in die kosovarische Hauptstadt Pristina. Mit der Lufthansa via Frankfurt.

Vor einem Jahr, am 19. September 2012, landet der Syrer als Flüchtling am Frankfurter Flughafen - "mit viel Angst, weil ich nicht wusste, was mit mir passiert". Tausend Fragen hätten ihm deutsche Beamte am Flughafen gestellt: Woher kommen Sie, warum sind Sie nach Deutschland geflohen, und so weiter? Schließlich erhält er Papiere und wird für einen Monat in die "Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge" nach Gießen gebracht. Es folgt eine Gemeinschaftsunterkunft im Lahn-Dill-Kreis. Dort lebt er seit einem knappen Jahr. Dort leben auch weitere Syrer. Zum Beispiel Emad Aldeens Bruder, 29 Jahre alt. Und ein ehemaliger Angehöriger der Rebellenarmee, ein "Geheimnisträger" in Syrien. Er hat politisches Asyl beantragt. Das Gespräch sagt er kurzfristig ab. Er hat Angst, syrische Geheimdienstler könnten ihn ausfindig machen.

Der Lahn-Dill-Kreis stellt zurzeit insgesamt 17 Gemeinschafts-Unterkünfte für etwa 380 Flüchtlinge zur Verfügung. Und die Zahl wächst. "Die Unterkünfte werden nicht ausreichen, wir werden nicht ohne neue Standorte auskommen", sagt Klaus Gerhard Schreiner, zuständiger Abteilungsleiter in der Kreisverwaltung. Allerdings will der Kreis keinesfalls noch einmal Zelte aufstellen - so wie vergangenes Jahr auf dem Spilburg-Gelände in Wetzlar. Schreiner: "Wir werden bei den Unterkünften einen hohen Standard an Sicherheit und Brandschutz anlegen."

Verlässliche Zahlen, wie viele Flüchtlinge dem Lahn-Dill-Kreis in diesem Jahr noch zugeteilt werden, habe er nicht. Das Regierungspräsidium rechne mit etwa 300, aber vermutlich seien es mehr. Bislang kämen die Flüchtlinge vor allem aus Serbien und Mazedonien, berichtete er vorige Woche den Kommunalpolitikern aus dem Kreistag in einer Sitzung.

Nach einem Bericht der Wochenzeitung "Die Zeit" fliehen aus diesen beiden Ländern zumeist Roma. Aber Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) habe entschieden, dass ihre Asyl-Anträge vorgezogen und im Eilverfahren abgelehnt und sie dann abgeschoben werden müssten.

"Unsere Asylpolitik ist eigentlich eine Anti-Asylpolitik, Deutschland will keine Asylbewerber", sagt Bettina Twrsnick. Die Wetzlarerin ist Mitglied in dem Verein "Flüchtlingshilfe Mittelhessen" und hier wiederum in einem Arbeitskreis für den Lahn-Dill-Kreis zuständig.

In den nächsten Wochen werden im Lahn-Dill-Kreis zunehmend Flüchtlinge aus Syrien erwartet. Denn: Die Bundesregierung hatte im Frühjahr erklärt, dass sie 5000 Syrer aus den Flüchtlingscamps in Libanon und Jordanien aufnehmen will. Am heutigen Mittwoch landen die ersten von ihnen in Hannover, und Innenminister Friedrich will sie dort empfangen.

Für Bettina Twrsnick ist das "nur ein Tropfen auf den heißen Stein". Laut der Menschenrechtsorganisation "Pro Asyl" gibt es weltweit 43 Millionen Flüchtlinge. Darunter sind zwei Millionen aus Syrien, davon wiederum eine Million Kinder. Deutschland zählte im vergangenen Jahr rund 65 000 Asylsuchende, in diesem Jahr werden etwa 100 000 erwartet. Und voriges Jahr sind nur 8764 Personen (14,2 Prozent der Antragstellenden) als Flüchtlinge anerkannt worden. Weitere 8376 Personen durften bleiben, weil ihnen im Herkunftsland etwa die Todesstrafe, Folter oder Gefahr für Leib und Leben drohen.

"In Deutschland gibt es einen Ärztemangel, und er will arbeiten"

Hilfe für den Alltag erhalten die Flüchtlinge im Lahn-Dill-Kreis vor allem von Ehrenamtlichen. Die "Flüchtlingshilfe Mittelhessen" kümmert sich nach eigenen Angaben um Deutsch-Kurse, Arztbesuche sowie juristische Beratung. "Wir machen den Job des Sozialamts", sagt Bettina Twrsnick.

Derweil sind die Lahn-Dill-Kreis-Politiker sind sich unsicher, wie sie mit dem Thema "Zunahme der Flüchtlingszahlen" umgehen sollen. Nach den Demonstrationen von Anwohnern und Rechtsextremisten vor einem Asylbewerberheim im Berliner Stadtteil Hellersdorf vor kurzem fürchten sie das könnte Schule machen. Und sie fürchten, die Rechten von der NPD könnten das Thema für den Wahlkampf ausnutzen. Doch Klaus Gerhard Schreiner aus der Kreisverwaltung meint: "Wir sind eine wehrhafte Demokratie und dürfen uns nicht von den Radikalen einschüchtern lassen." Außerdem habe es in den letzten Jahren im Lahn-Dill-Kreis wenige bis keine Übergriffe von Rechten gegeben.

Wie geht es mit Emad Aldeen weiter? Er will Arzt werden, er lernt Deutsch und hat ein Praktikum im Weilburger Krankenhaus gemacht. Bettina Twrsnick unterstützt ihn, und sie sagt: "In Deutschland gibt es doch einen Ärztemangel. Und er will ja was tun, er will arbeiten. Und es ist auch noch unabsehbar, wann er wieder zurück muss." Allerdings weiß sie auch um die rechtliche Situation in Deutschland: Als Asylbewerber werden nur politisch oder rassistisch Verfolgte anerkannt. Und Krieg gelte nicht als politische Verfolgung. Kriegsflüchtlinge dürften nur aus humanitären Gründen bleiben und nur so lange der Krieg dauere.

Und wenn der 27-Jährige nach Syrien zurück muss? Er sagt: "Ich weiß nicht, was dann mit mir passiert. Ich kann nicht an die Zukunft denken, ich handle jetzt."

Zum Abschluss des Gesprächs hat der Flüchtling aus Syrien noch eine Frage: "Dürfen Sie das alles einfach so schreiben? Oder schaut die Regierung noch drauf?"

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