Pressespiegel & Aktuelles
Pressespiegel & Aktuelles - Archiv von Wolfgang Schuster
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Woolrec: 300 Bürger fordern Antworten
RP Witteck kündigt weitere Proben an
Braunfels-Tiefenbach (sap). Die Bürger standen am Montagabend Schlange, um kritische Nachfragen zu stellen. Gut drei Stunden ging es in der Bürgerversammlung der Stadt um die Dioxin- und PCB-Belastung in Tiefenbach rund um die Firma Woolrec sowie um die Folgen für die Bewohner des Braunfelser Stadtteils.
300 Bewohner und Gäste kamen. Und sie brachten aus den Gärten Äpfel, Grünkohl und die Frage mit: „Würden Sie das Ihrem Kind noch zum Essen geben?“ Von den Vertretern des Hessischen Landeslabors mit Direktor Hubertus Brunn an der Spitze und des Hessischen Landesamtes für Umwelt und Geologie mit Präsident Thomas Schmid, die Proben entnommen und ausgewertet hatten, folgten über eine Stunde Fachvorträge, während die Bürger auf allgemein verständliche Antworten zur Bewertung der Funde für ihre Gesundheit und ihren Alltag warteten.
Regierungspräsident (RP) Lars Witteck (CDU) versuchte unterdessen auf dem Podium verlorenes Terrain gut zu machen. Wenn der Eindruck entstanden sei, seine Behörde habe Sorgen wegwischen wollen, tue ihm dies persönlich leid, entschuldigte er sich. „Niemand will, dass Sie sich Sorgen machen müssen.“ Er sei zugleich weit davon entfernt zu glauben, dass in der Vergangenheit alles optimal gelaufen sei, so Witteck weiter.
Während die Reaktion darauf verhalten ausfiel, gab es für Wittecks Schnelldurchlauf der aktuell zwölf Verfahren des Regierungspräsidiums gegen Woolrec Beifall. „Diese Firma beschäftigt uns mehr als alle anderen Betriebe in Mittelhessen zusammen“, so der RP. Gegen jede Maßnahme seiner Behörde gehe die Tiefenbacher Firma gerichtlich vor. Sei es gegen den Entzug des Zertifikats als Entsorgungsbetrieb oder weil man dem Geschäftsführer wegen Unzuverlässigkeit die Führung der Firma untersagt habe. Woolrec hat den RP auf Schadenersatz verklagt. Die juristischen Auseinandersetzungen werde seine Behörde konsequent weiterführen, so Witteck. Bis Sicherheit herrsche, bleibe das stillgelegte Unternehmen Woolrec zu, versicherte Witteck in Tiefenbach. Wonach er sich aber richten müsse, sei das Gesetz, sagte er zur Forderung aus dem Saal, den mit Mineralfaserabfall hantierenden Betrieb endgültig zu schließen. Landrat Wolfgang Schuster (SPD) stellte sich vor den RP. „Solche Entscheidungen müssen sorgfältig vorbereitet werden. Es wäre der größte Schaden, wenn ein Gericht entscheidet, dass eine Woolrec-Schließung des RP keinen Bestand hat.“ Bereits am Dienstag hatte das Unternehmen Woolrec angekündigt, die Wiederöffnung des Unternehmens zu beantragen. Die Firma verweist auf Analysen des Hessischen Landeslabors und des Landesamtes für Umwelt und Geologie, nach denen die Daten für Dioxin und andere Schadstoffe im Ort unter den gesetzlichen Grenzwerten liegen.
Zentrales Thema war am Montag auch, warum das Landeslabor aufgrund der bisher ermittelten Probenwerte den Verzehr von Gemüse und Obst sowie die Verfütterung von Heu als unbedenklich ansieht und das RP Entwarnung gab.
Denn Witteck und sein Mitarbeiter Friedrich Frankenau erklärten jetzt in Tiefenbach, alle zusätzlich empfohlenen Nachproben würden unverzüglich vorgenommen oder in den nächsten beiden Tagen ausgeschrieben. Die Kosten dafür trage die Aufsichtsbehörde, so Witteck auf Nachfrage von Gerd Mathes aus dem Publikum.
Auf dem Spielplatz des Stadtteils wird laut RP schon in dieser Woche aufgrund von Kupfer- und Nickel-Werten weiter untersucht, auf einem Privatgrundstück geht es um Benzpyren. Weitere Tests für Obst, Gemüse, Heu sowie auch tiefere Bodenproben, bisher wurde an sechs Stellen untersucht, sollen mit Blick auf PCB, PAK und Kadmium folgen.
Die Frage von Grünen-Landtagsabgeordneter Mürvet Öztürk, ob die Entwarnung somit nicht verfrüht gewesen sei, und was die Bürger bis zu weiteren Ergebnissen tun sollten, blieb am Abend offen. Es seien laut Landeslabor keine Kontaminationen anzunehmen, die alarmierend seien oder dringlichen Handlungsbedarf erforderten, sagte Witteck. Dennoch werde man jedem Hinweis nachgehen.
Witteck: Bis Sicherheit herrscht, bleibt Woolrec zu; Verzehr unklar
Der vom Ortsvorsteher Tiefenbachs beauftragte Zweitgutachter Peter Gebhardt hatte aus den Werten des Landeslabors komplett andere Schlüsse gezogen. Er gehe weiter davon aus, dass das Landeslabor nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe, so Witteck auf Nachfragen dazu. Dennoch sei er froh, dass die Analysen nun dem Bundesinstitut zur Risikobewertung vorgelegt würden.
Vertrauen könne nur geschaffen werden, forderte Ewald Usleber von der Interessengemeinschaft Tiefenbach, wenn das Bundesinstitut auch Hintergrundinformationen erhalte. Etwa dazu, dass Woolrec zehn Jahre in Tiefenbach produziert habe. Weiter forderte der Tiefenbacher, dass auch die Bürgerinitiative Fragen an das Bundesinstitut weiterleiten kann. Zudem verlangte er vom RP schonungslose Aufklärung der Vergangenheit.
Für Unmut des Publikums hatte vor allem die Einordnung der Obst-, Gemüse- und Grasproben durch den Direktor des Landeslabors gesorgt. Brunn und seine Mitarbeiter sagten, dass die Werte etwa für Dioxin und PCB in Tiefensbach das „normale Maß“ nicht überschreiten.
Wer ein Jahr lang täglich 100 Gramm Tomaten und 250 Gramm Äpfel aus dem Stadtteil esse, dem entstehe daraus kein Risiko. Der Grenzwert sei unterschritten und dieser liege noch um das 1000-fache unter dem einer Gesundheitsgefahr. Für die Bewertung sei nicht die Aufnahme von Dioxin, sondern die gespeicherte Menge im Körperfest entscheidend, so Brunn, der im Anschluss immer wieder das Vorgehen des privaten Gutachters Gebhardt angriff.
Dass das Landeslabor selbst allerdings eine Grasprobe dadurch kaum nutzbar machte beziehungsweise umrechnete, weil zu viel Erde anhaftete, sorgte beim Publikum für ungläubiges Staunen. Auch mit der Äußerung, dass Kinder wachsen und sich beim Dioxin somit „ein Verdünnungseffekt“ einstelle, machte sich Brunn keine Freunde.
Gebhardt betonte erneut, das Landeslabor habe aus seiner Sicht gar keine toxikologische Bewertung für die Gesundheit der Tiefenbacher vorgenommen. Zumal diese nicht nur Tomaten und Äpfel, sondern auch Salat und tierische Nahrung zu sich nähmen, was keine Berücksichtigung gefunden habe. Zudem gebe die Weltgesundheitsorganisation ihre Empfehlungen anhand von wöchentlich aufgenommenen Schadstoffmengen ab. Die Grenzwerte auch für Blei im Heu seien in Tiefenbach überschritten. Zudem sei die Belastung nicht ein Jahr, sondern seit zehn Jahren existent. Die Werte der Belastungen müssten addiert und nicht isoliert betrachtet werden, warf auch ein Bürger ein.
Das Landesamt für Geologie informierte über erhöhte Werte, die jedoch nicht bedenklich und nicht durchgängig gefunden worden seien, was eine Zuordnung zu Woolrec auf der aktuellen Datenbasis nicht ermögliche. Das Amt empfiehlt genauere Untersuchungen.
„Meine Kinder haben hier Fußball gespielt, Äpfel gegessen. Ich habe Angst, dass sie Schäden davongetragen haben“, machte Mutter Wendy Menz deutlich. „Ich bin von Berlin aufs Land nach Tiefensbach gezogen, um gesund zu leben“, steuerte Bärbel Kamphausen bei. Sie und ihre Familie ernährten sich aus dem Garten und von regionalen Produkten. „Welche Vorsorge muss ich treffen?“, fragte sie. Auch für Uwe Möglich und seine 600 Liter selbst gekelterten Apfelsaft bleibt die Lage ungewiss. An ein Menschenrecht auf Gesundheit erinnerte die Kirchengemeinde.
„Unser Dorf braucht Vertrauen, um zum Normalleben zurückkehren zu können“, so der dringende Appell von Ortsvorsteher Heinz Schulz (SPD) an die Verantwortlichen. „Kämpft weiter, das ist angewandte Demokratie“, machte zumindest Stadtverordnetenvorsteher und Moderator Volker Zimmerschied (SPD) Mut. Nerven werden die Bürger brauchen, denn am Dienstagabend kündigte Woolrec an, den Betrieb wiederaufnehmen zu wollen.